Ein Erlebnisbericht von Wolfgang Platzek
Wenn die Haupturlaubszeit vorbei ist und der Herbst ins Land zieht, beginne
ich mich ernsthafter mit den Marathons des nächsten Jahres zu beschäftigen.
In die engere Wahl kommen dann grundsätzlich Wettkämpfe, die entweder
von meiner Heimatstadt Regensburg aus leicht zu erreichen sind oder die sich
mit einem Urlaub oder Wochenende verbinden lassen.
Für 2003 plante ich 4 Marathonläufe: Am 2. Februar Bad Füssing,
am 18. Mai Würzburg, am 1. Juni Regensburg sowie am 12. Oktober München.
Ein Marathon sehr früh im Jahr ist psychologisch sehr geschickt, verhindert
doch der Zwang, sich darauf vorzubereiten zu müssen, dass man sich in der
dunklen Jahreszeit bei ungemütlichem Wetter von seinem inneren Schweinehund
besiegen lässt!
Der Lauf in Bad Füssing wird allerdings wohl als der Kälteste meiner
Karriere im Gedächtnis bleiben; es ging bei minus 11 Grad los und „erwärmte“
sich auf nur noch minus 10 Grad.
Das Wasser, das gereicht wurde, war wegen der Eisschicht untrinkbar, die Bananenstücke
waren „on the rocks“, glücklicherweise gab es heißen
Tee, sonst wäre das Trinken ein ernsthaftes Problem geworden.
Ich hatte beim Zieleinlauf nach 3 Stunden und 17 Minuten Eisbatzen im Haar und
an den Augenbrauen... Das anschließende Bad im Thermalwasser des Johannesbades
war dann freilich wieder ein Hochgenuss.
Nun also ein paar Tage reduziertes Training zur Regeneration, um allmählich Umfänge und Intensität für Würzburg und Regensburg zu steigern.
Aber fand nicht Regensburg nur 14 Tage nach Würzburg statt, das hieße zwei Marathonläufe in zwei Wochen - widerspricht das nicht allen Empfehlungen, die man bisher darüber gehört hat? Mindestregenerationszeit 5 – 6 Wochen? Wenn ich so zurückdenke, haben eigentlich alle von diesem Versuch abgeraten.
Das Training
Mein Tagebuch vermerkt nach einem in der Regenerationsphase nach Bad Füssing
naturgemäß bescheiden ausfallenden Trainingspensum im Monat Februar
bereits für März 381 km, darunter die beiden ersten „langen
Läufe“ über 30 bzw. 33 km. Es gelingt mir, im April die Kilometerumfänge
auf 420 km auszubauen. In diesen Monat fallen nochmals drei „lange“
– der längste 35 km – sowie der Halbmarathontest. Mit dem Ergebnis
des Halbmarathons – 1 Stunde 30 Minuten 17 Sekunden – bin ich allerdings
nicht ganz zufrieden, hätte ich doch eigentlich deutlich unter der psychologisch
wichtigen Marke von 1 ½ Stunden bleiben wollen.
Exakt zwei Wochen vor Würzburg nun das letzte Mal 35 km, es folgen eine
Woche mit nur 73 und eine Ruhewoche mit nur 34 km.
Wie ich in der Rückschau einräumen muss, habe ich in der Vorbereitung
das Tempotraining zu stark vernachlässigt: Ich war nur dreimal auf der
Bahn, um genau nach der Uhr Einheiten im 4:00er Schnitt zu laufen. Es wird sich
zeigen, dass dieses Versäumnis sich dann auch auf die Endzeiten auswirkt.
Der Würzburgmarathon am 18. Mai
Würzburg ist eine viel zu herrliche Stadt, um nur wegen des Marathons hinzufahren.
Wir reisen bereits am Freitag an, um die Stadt ein ganzes Wochenende lang genießen
zu können.
Der ganze Samstag gehört der Kultur. Wir bummeln durch die barocke Altstadt
und wandern hinauf zur Festung Marienberg hoch über der Stadt. Einst Sitz
der mächtigen Fürstbischöfe, beherbergt sie heute das Mainfränkische
Museum. Einen Besuch lohnen allein schon die spätgotischen Holzskulpturen
von Tilman Riemenschneider, Werke von berückender Schönheit, an künstlerischer
Qualität wohl nicht zu übertreffen.
Vom Hof der Festung aus bietet sich ein herrlicher Ausblick über Würzburg
und die Weinberge, ein Panorama, für das man sich Zeit nehmen sollte. Wir
treffen eine Gruppe Italiener in unübersehbarem Läuferoutfit; es handelt
sich um Redakteure der italienischen Laufzeitschrift Correre, die über
den Würzburger Marathon berichten wollen. Ein freundschaftliches Schwätzchen
entwickelt sich, wir können den Italienern viel über Würzburg
erzählen. Es wäre interessant, die Ausgabe der Zeitschrift mit dem
Bericht über Würzburg zu lesen – schade, dass die Zeitschrift
in Deutschland nicht oder nur sehr schwer erhältlich ist.
Im Start-/Zielbereich wurde ein großes Bierzelt aufgebaut, in dem die
Organisation, die Startnummernausgabe, Ess- und Getränkestände, Pastaparty
sowie die Marathonmesse untergebracht sind. Nachdem ich die Startunterlagen
abgeholt habe, durchstreife ich die Marathonmesse. Erneut ist festzustellen,
dass die Würzburger Messe nicht nur außerordentlich gut sortiert
ist sondern auch von allen Messen, die ich kenne, die meisten Schnäppchen
bietet. Sowohl für meine Frau Andrea als auch für mich fällt
ein Paar neuer Laufschuhe sowie diverse Laufbekleidung in Funktionsfaser ab.
Auch die Pastaparty hinterlässt einen positiven Eindruck: Die Tomatensoße
mit frischen Gemüsestücken frisch und schmackhaft, die Nudeln „al
dente“, die Menge ausreichend, um satt zu werden – was will man
mehr? Leider gibt´s die komprimierten Kohlenhydrate nur für Marathonis;
Sportler, die nur die halbe Strecke laufen wollen, müssen dafür 3,-
€ berappen.
Der Abend führt uns nochmals in die Innenstadt, es ist lau genug, noch
im Freien zu sitzen. Gerne hätte ich ein Gläschen Frankenwein getrunken,
das ich mir aber in Anbetracht des Marathons am Tag darauf verkneife.
In der Nacht geht ein heftiges Gewitter über der Stadt herunter, es regnet
stundenlang.
Als wäre nichts gewesen, präsentiert sich der Morgen zunächst
mit strahlendem Sonnenschein. Allerdings gehen immer wieder kürzere Schauer
nieder, so erzeugt die Verdunstung der starken Nässe ständig ein schwül-dämpfiges
Klima, das das freie Atmen erschwert und bei den Läufern zu starkem Schwitzen
führen wird.
Das Starterfeld ist zwar in Blöcke nach Bestzeiten aufgeteilt; vorne die
starken Läufer, in der Mitte die Normalverbraucher, hinten die Gemütlicheren.
Leider wird nicht kontrolliert, wer sich wo aufstellt – viele Langsamere
reihen sich ganz vorne ein, so dass man gezwungen ist, die ersten Kilometer
Haken schlagend hinter sich zu bringen, um ein bisschen nach vorne zu kommen.
Zunächst führt die Strecke stadtauswärts durch reine Wohngebiete
mit nur sehr wenig Publikum, um dann in einer Schleife wieder am Start vorbei
der Innenstadt zuzustreben. Jetzt gibt es begeisterte Anfeuerungsrufe, Musikbands
heizen die Stimmung auf. An den Verpflegungsstellen wird neben Wasser und Isogetränken
auch Apfelschorle gereicht, was ich gerne annehme. Leider hat man die Bananenstückchen
in ihren Schalen gelassen, das mag zwar hygienischer sein, es ist jedoch zum
einen lästig, währen des Laufens Bananen zu schälen, zum anderen
bilden die achtlos weggeworfenen Schalen ein gewisses Sturzrisiko.
Erster Kräfte zehrender Zwischenabschnitt ist die Juliuspromenade: Es geht
nicht steil, dafür aber stetig bergauf; außerdem demoralisiert es
natürlich schon auch ein bisschen, an den Straßencafés mit
den Gästen, die gerade ein spätes Frühstück einnehmen, vorbeilaufen
zu müssen.
Marathon mit Besichtigungseinlagen: Wir passieren die Residenz im Range eines
Weltkulturerbes, gebaut von Balthasar Neumann, innen freskiert von Tiepolo,
es geht am Dom vorbei und am Marktplatz mit der Marienkirche. Für einige
Minuten öffnet sich auch der Blick auf die Festung; ich kann den Punkt
ausmachen, von dem aus wir tags zuvor den Panoramablick auf uns hatten wirken
lassen. Nun, heute eine ganz andere Perspektive und Situation! Kurz vor Erreichen
der Halbmarathonweiche ein weiterer kraftraubender Anstieg: Es geht die alte
Mainbrücke hoch, gesäumt von einigen barocken Bischöfen aus Stein,
die schon vor Jahrhunderten gestorben sind, und von hunderten Fans aus Fleisch
und Blut, die dafür umso lebendiger sind und die die Läufer für
den letzten Kilometer Spurt ins Ziel nochmals anfeuern.
Wenige hundert Meter vor der Marathonweiche gabelt sich der Weg: Die „Halben“
laufen einen etwa 50 Meter hohen Anstieg mit mindestens 12 % Steigung nach links,
die „Ganzen“ den gleichen Anstieg, den jedoch rechts.
Ich bin mit der Zwischenzeit von 1 Stunde und 32 Minuten recht zufrieden; selbst
wenn ich auf die zweite Hälfte einige Minuten verliere, sollte die anvisierte
Zeit von 3 Stunden und 8 Minuten zu machen sein!
Nun wird es schlagartig einsam, auch in Würzburg zeigt sich der Trend,
dass bei Marathons der weitaus überwiegende Teil „halb“ läuft.
Die Strecke der zweiten Hälfte ist mit der ersten identisch, anfangs kann
ich auch noch den Schnitt von etwa 4:30 halten, ab Kilometer 32 jedoch merke
ich, dass die Tempohärte nachlässt. Wenn auch keine Krämpfe auftreten,
sehne ich jetzt doch jede Wasserstelle herbei und muss mich zwingen, beim Trinken
nicht zu gehen. Auch die kleineren Steigungen gehen jetzt richtig in die Beine.
Das Versäumnis, auch diszipliniert und systematisch am Tempo zu arbeiten,
rächt sich nun.
Den Anstieg kurz vorm Ziel schaffe ich zwar mit zusammengebissenen Zähnen,
doch er nimmt die Kraft für einen Endspurt: Nach 3 Stunden 18 Minuten und
3 Sekunden, genau 10 Minuten schlechter als geplant, schleppe ich mich mehr
über die Zielmatten als dass ich laufe.
Nach dem Marathon ist vor dem Marathon
Natürlich wäre es Unrecht, wegen der Endzeit von Würzburg ernsthaft
enttäuscht zu sein, immerhin wurde ich damit 193. von 1438 männlichen
Finishern!
Für zwei Tage ist jetzt erst einmal Schonung angesagt. Am dritten Tag probiere
ich beim Lauftreff schon wieder Tempo im Wald: 1 Stunde im 5:00er Schnitt bergauf,
bergab – ich staune selbst, wie leicht es schon wieder geht.
Die nächsten Tage gemäßigtes Kilometersammeln, eine Woche nach
Würzburg eine etwas längere Einheit: 22 Kilometer, gemütlich
in zwei Stunden.
Gewarnt durch das Ergebnis in Würzburg baue ich auch einen Tempoblock auf
der Bahn ein: vier mal 1,4 km im 4:00er Schnitt, mit bewusst langsamem Ein-
und Auslaufen und langen Trabpausen zwischen den Tempoeinheiten.
Der Regensburg-Marathon am 1. Juni
Das dritte Mal Regensburg, das dritte Mal bei Hitze.
Der Weg führt vom äußeren Westen durch breite Alleen in Richtung
Altstadt; zunächst schneidet man die historischen Ecken nur an um sich
bald in den Industriegebieten des Stadtostens wiederzufinden. Es reicht nicht,
dass sich die Umgebung ohne jeden Reiz präsentiert, auch verläuft
hier eine lange Pendelstrecke, das heißt, man sieht über Kilometer
die schnelleren Läufer auf der anderen Fahrbahnseite schon wieder entgegenkommen.
Eine ernsthafte Probe für die psychische Stabilität!
Dafür ist stimmungsmäßig bestens vorgesorgt: Buchstäblich
an jeder Straßenecke steht eine Musikgruppe und heizt den Läufern
ein. Zehntausende von Zuschauern tragen die Athleten mit ihrer Begeisterung
weiter.
Nach der Wende im äußeren Osten hat man irgendwann auch die Pendelstrecke
hinter sich gebracht und betritt mit dem Ostentor die Altstadt. Zunächst
überquert man auf zwei Brücken die Donau stadtauswärts, um dann
über die weltberühmte Steinerne Brücke, mehr als 850 Jahre altes
Wahrzeichen der Stadt, aber auch mit 5 ½ Metern Höhenunterschied,
wieder in die Innenstadt einzulaufen. Es geht durch die Fußgängerzone:
Am Alten Rathaus, dem am besten erhaltenen gotischen Rathaus Deutschlands vorbei
und über den Haidplatz – eine italienische Piazza! Hier sind jetzt
die Zuschauermassen so dichtgedrängt, dass für die Läufer teilweise
nur eine schmale Gasse übrigbleibt.
Wie in Würzburg, so ist auch in Regensburg die zweite Hälfte des Marathons
mit der ersten identisch. Bei der Halbmarathonweiche ein kritischer Blick auf
die Uhr: 1 Stunde und 38 Minuten. Mir war klar, dass ich die Zeit von vor zwei
Wochen nicht würde halten können, aber mit dieser Zwischenzeit hatte
ich nicht gerechnet! Überhaupt Selbstanalyse: Noch verspüre ich das
„Runner´s High“, es geht viel leichter als gedacht, eine bessere
Halbzeit wäre locker möglich gewesen, aber ich habe mich von Anfang
an etwas gebremst, um für das Ende des Laufs noch etwas Reserven aufbieten
zu können.
Ernsthafte Sorgen macht mir jetzt die zunehmende Hitze: Ich hatte seit dem Start
immer wieder ein paar zusätzliche Schritte in Kauf genommen, um Schatten
ausnützen zu können, aber jetzt brennt es glühend heiß
herunter! Die gefühlte Temperatur liegt bei mindestens 30 Grad. Konsequent
trinke ich bei jeder Wasserstelle soviel es geht. Besonderer Dank meiner mobilen
Wasserstelle Andrea, die es schaffte, mir einige Male Extraportionen Wasser
zu reichen!
Etwa 5 Kilometer vor dem Ziel trifft mich dann die Hitze wie ein ungebremster
Schlag. Die Bewegungen verlieren ihre Behendigkeit; ich habe den Eindruck, im
Zeitlupentempo zu laufen.
Besorgter Blick auf die Uhr: Werde ich eine einigermaßen brauchbare Zeit
zusammenbringen? Ich kämpfe mich von Kilometer zu Kilometer. Nur noch mein
Wille trägt mich vorwärts. Ich male mir aus, wie es sein wird, unter
einer eiskalten Dusche zu stehen. Endlich Kilometer 42, nur noch 195 Meter.
Da, ein Ruf aus der Zuschauermenge: „WOLFGANG!!!“. Mein Arbeitskollege
Jens hält mir ein Glas mit frischgezapftem Bier entgegen. Er hat es dann
so beschrieben: Mein verzerrter, angespannter Gesichtsausdruck machte einem
breiten Grinsen Platz.
Ich nehme das Glas, trinke einen kräftigen Schluck und gehe das letzte
Stück, den Zuschauern fröhlich zuprostend, im Spaziergängertempo
ins Ziel. Für eine Minute bin ich ein Star! Auch wenn mich der Schlussspaziergang
eine oder zwei Minuten gekostet haben mag: Mit meiner Endzeit von 3 Stunden
26 Minuten und 17 Sekunden bin ich angesichts der Tatsache der tropischen Hitze
und der kurzen Regenerationszeit von zwei Wochen hochzufrieden.
Auch wenn das Ergebnis weit von jeder persönlichen Bestzeit entfernt ist:
Ich war im Ziel selten so glücklich und erleichtert.